Interview mit Zukunftsforscher Oliver Leisse

Messekonzepte für die Zukunft

Wirtschaftsmotor Messe: Fast zwei Drittel der globalen Leitmessen fanden bis 2019 in Deutschland statt. Und doch kränkelte die Messebranche schon vor Corona, viele stellten sich die Sinnfrage. Zukunftsforscher Oliver Leisse erklärt, wohin sich das Format „Messe“ entwickeln wird – und muss.

[Das Interview führte Martina Courth; erschienen in EVENT PARTNER 2-2021]

Oliver Leisse
Zukunftsforscher Oliver Leisse (Bild: Oliver Leisse)

Die Institution Messe befand sich schon vor der Corona-Pandemie in einer Sinnkrise. „Die Messe ist tot“ war gemeinhin der Slogan. Nahmen Sie das auch so wahr?

Oliver Leisse: Es gibt ja immer wieder Zeiten, wo bestimmte Begriffe neu aufgeladen werden. So wie sich die Bedeutung von anderen Begriffen verändert, so verändert sich auch die Bedeutung des Begriffs „Messe“ in Zukunft. Die alte Messe ist tot, es lebe die neue Messe. Es muss also wieder einen Neuanfang geben und das Beste, was der Messe passieren konnte, war die Krise. Ansonsten hätte sie es nie hinbekommen und so geht es wieder mit neuem Schwung nach vorne. Man muss die Messe wieder als das sehen, was sie eigentlich mal war, nämlich dieser „Fair“. Der Gedanke von „Fair“ ist, wenn man sich die Übersetzung ansieht, nämlich „Messe“, „Jahrmarkt“ oder „Volksfest“ – wo sich Aussteller treffen. Das passt zwar gut zusammen, aber das war’s nicht. Das war bislang eine rationale durchdesignte Veranstaltung mit ein paar Würstchen am Rande. Das kann natürlich nicht wiederkommen.

Jetzt, mit der Corona-Pandemie, nimmt die Sehnsucht nach Begegnung enorm zu. Die Messe gilt als Ort der (zufälligen) Begegnung – haucht das der Messe wieder Lebensgeist ein?

Leisse: Es gibt eine Veränderung, die Sehnsucht ist spürbar. Ich bin ja auch Keynote Speaker und habe normalerweise etwa 70 Auftritte im Jahr auf der Bühne. Das fällt jetzt weg, aber ich merke, wie sich meine Kunden zurückmelden und sagen: „Wir möchten gerne.“ Das wird wiederkommen, aber anders als in der Vergangenheit und so wird es bei der Messe auch sein. Ich werde einen großen Anteil an Online- und Hybrid-Veranstaltungen haben und schätzungsweise nur die Hälfte oder ein Drittel in Präsenz. „So wie früher“ wird dann aber größer und bedeutender sein und alle werden sich mehr freuen und es wird auch mehr investiert. Es wird nicht gesund nach unten geschrumpft, sondern live bewegt sich in den Premium-Bereich: Es wird noch bessere Speaker geben, ein noch besseres Rahmenprogramm, es wird noch netter. Eine Entwicklung zum Positiven hin.

Messen sind ein Business-Faktor für die Bundesrepublik Deutschland. Wenn sich viele Business-Begegnungen – erlernt durch die Abstinenz in der Corona-Pandemie – jetzt ins Digitale verlagern, was bedeutet das für den Messe-Standort Deutschland?

Leisse: Wir müssen einsehen, dass es nicht mehr so viele Messestandorte geben wird. Was wir sehen, ist eine Metropolisierung von großen Regionen. Den Föderalismus in Deutschland, dass also jede Region gegeneinander kämpft und im Wettbewerb ist, kann man auf Europa übertragen. Dann kämpft London mit Paris, Paris mit Berlin, München spielt auch noch eine Rolle. Es gibt überall große Einzugsgebiete in Europa, die aber wahrscheinlich an einer Hand abzuzählen sind. Und da passieren die Messen der Zukunft, da wird sich dann im großen Stil getroffen. Die neue Konkurrenz ist dann: Wird Hamburg ein Vorort von Berlin sein oder wird es München? Wo wird die Verknubbelung stattfinden? Und diese Verknubbelung passiert überall.

Wir haben in Zukunft nur noch wenige Airlines in Europa, wir haben nur noch wenige Anbieter in jeder Branche. Es herrscht ein Konzentrationsprozess. Da tut sich eine Menge und das ist auch nicht schlecht. Es ist nur schlecht für den kleinen Messestandort, der nur dann eine Chance hat, wenn er zu einem Branchentreff wird. Und der Branchentreff müsste dann eigentlich wieder mehr bieten als eine Leistungsschau wie in der Vergangenheit. Ich bin davon überzeugt, dass der Messe der Zukunft eine Art Community- und Clubgedanke zugrunde liegen muss, wo man sich untereinander ständig austauscht und wo es in Podcasts oder sozialen Medien immer wieder Impulse in der Vorbereitung zur Messe gibt. Die Messe ist dann eigentlich nur ein fröhliches Zusammenkommen, aber vieles ist schon online im Vorfeld geregelt worden. Das gibt es bereits in verschiedenen anderen Branchen, wo wir dieses integrative Element – online und analog zusammenzubringen – sehen. Wir machen online ganz viel Ratio-, vor Ort machen wir dann ganz viel Emotionales. – Das, worauf es eigentlich ankommt und worin wir Menschen besonders stark sind.


»Online ganz viel Ratio-, vor Ort dann ganz viel Emotionales.«
Oliver Leisse


Das heißt, besonders die kleineren Messestandorte werden sich neue Konzepte der Begegnung überlegen müssen?

Leisse: Oder sie schaffen es, ein ganz besonderes, kreatives Angebot zu präsentieren, was ich für durchaus denkbar halte. Wenn ich beispielsweise ein Rahmenprogramm habe, das sich herumspricht. Wenn ich im Bereich der Gastronomie, der Kunst oder Musik etwas schaffe, was sich mit dem Event gut verbinden lässt. Der entscheidende Punkt wird sein: Wie kann ich aus der DNA einer Branche das Event darum herum entwickeln, das auch passt? Bei manchen Branchen ist das einfacher, bei manchen schwieriger. Hier sind kreative Menschen gefragt.


»Der entscheidende Punkt wird sein: Wie kann ich aus der DNA einer Branche das Event darum herum entwickeln, das auch passt?«
Oliver Leisse


Was sind die wichtigsten Punkte, auf die man als Messeveranstalter nach der Pandemie achten sollte?

Leisse: Vorweg: Agilität ist das, was alles zusammenhält. Dieses „Kopf in den Sand stecken und abwarten, bis es wie früher wird“ ist tödlich. Das wird gar nicht funktionieren, wie wir jetzt schon sehen.


Commitment | Convenience | Creativity | Connection


Der erste wichtige Punkt ist dann Commitment. Du brauchst nicht nur Leistung, sondern auch eine Absicht. Du musst ein Statement einfließen lassen. Eine Messe muss auch eine Konferenz sein, in der gedacht wird und wo es auch Statements gibt. Wo man sagt: „Wir gehen den Weg in diese Richtung.“ Am besten immer mit einem gesellschaftlichen Mehrwert, da kommt es den jungen Generationen drauf an. Sonst verliert man diese.

Der nächste Punkt ist Convenience. Diese ist extrem wichtig geworden. Alle Pain Points rund um den Messebesuch – die Einladung, Anfahrt, stundenlanges „Rumlatschen“ etc. – das sind alles Punkte, die unter diesem Aspekt total entstaubt werden müssen. Hier sollte man überlegen, wie man dies besser fokussiert. Zum Beispiel, indem man Touren anbietet und den Messebesuch so viel angenehmer gestaltet.

Der dritte Punkt ist Creativity. Meine Empfehlung hier lautet, mehr in Experience zu denken, sprich: Erfahrung. Wenn ich zu einer Messe komme, muss ich ein Erlebnis erwarten. Ich muss auch überrascht werden. Ich muss gar nicht genau wissen, was da passiert. Für mich sind die Souks in Marrakesch das perfekte Bild: Man taucht in ein Universum ein, in dem man riecht, Geräusche hört und sich nach drei Minuten verlaufen kann, weil es kein Schachbrettmuster gibt, sondern Wege, Ebenen, Leute, die einen reinziehen, und man auch ein bisschen ängstlich ist, weil man nicht genau weiß, was da passiert. So etwas muss auf einer Messe eigentlich ebenfalls passieren. Das ist Kreativität.

Der letzte und vielleicht wichtigste Punkt ist Connection, das wird die Zukunft zeigen. Der Gedanke, dass man mit den richtigen Leuten zusammenkommen muss. Nur zusammen kommen wir durch schwierige Zeiten. Es ist nicht besonders prophetisch, dass wir mit den Folgen der Krise noch eine Zeit lang zu tun haben werden, dass wir die Klimakrise noch vor uns haben, von Inflation gar nicht erst zu reden. Ich bin sicher, dass wir nicht in die ruhigen Jahre zurückkommen, sondern dass es jetzt ein sehr lebendiges Stück Weg gibt, den wir beschreiten müssen. Den können wir am besten beschreiten, wenn wir Freunde haben und uns Vertrauen schenken. Dies kann man sehr gut auf einer Messe darstellen, weil man sich dort trifft und einen Rahmen schafft.

Ich glaube aber, dass mehr Nähe und Verbindlichkeit nötig werden als bei der Messekonzeption der Vergangenheit. Wir brauchen ein ganz neues Framing. Das ist wichtig, um den Bezug herzustellen. Hier ist der Frame keine Leistungsshow, sondern ein Clubgefühl, wo man sich mit Freunden auf dem Sofa zu einem Kaffee oder einem Glas Rotwein trifft. Das birgt wieder ganz große Chancen in Sachen Connection, weil es auf einmal ein Sehnsuchtsort ist. Bei der Messe habe ich ja erst mal nur den Raum und kann damit alles machen. Ich bin ja frei. Das ist das Beste, was mir passieren kann, weil ich ihn kreativ füllen kann. Dazu brauche ich neue Designer, neue Ideen. Da brauche ich keine guten standardisierten Messebausysteme, da brauche ich die Kreativen, die Künstler, die sich fragen: „Welche tollen Welten können wir hier schaffen?“.

Messen lebten bislang von der Vermarktung von Standfläche. Welchen neuen Ansatz könnte man wählen und was müssen Aussteller den Besucher:innen bieten?

Leisse: Hier bilden sich ja zwei Monetarisierungsstreams. Das eine ist das alte Prinzip der Aussteller, die sich einkaufen: Der Messeorganisator bietet Standfläche, das wird bleiben. Er wird aber zusätzlich darauf achten, dass die Aussteller sich auch kreativ einbringen. Aussteller werden in Zukunft nicht mehr ausschließlich mit Geld für Quadratmeter zahlen, sondern zusätzlich mit kreativen Konzepten. Wenn man sich heutzutage beispielsweise die Malls in Deutschland anguckt, dann sind die ziemlich langweilig. Deshalb versuchen die Betreiber, Unternehmen mit günstigen Mieten anzulocken, die dafür aber kreative Konzepte mitbringen. Søstrene Grene ist so ein Beispiel. Da kommen die Leute in die Mall, um deren Shop zu besuchen, im Gegenzug müssen sie nicht so viel zahlen. Und alle Shops drumherum sind glücklich. Analog braucht man auch vom Aussteller mehr Kreativität als: „Ich stelle da meine Sachen hin, und dafür zahle ich.“ Nein, so geht das nicht, da muss mehr kommen.

Der zweite Income-Stream wird sein, dass die Gemeinschaft der Leute, die hier infrage kommen, auch einen Anteil an den Kosten übernimmt. Das kann man ja steuerlich absetzen. Sie bekommen etwas Besonderes geschenkt. Es ist für das Business extrem wichtig, dabei zu sein. Da sind wir wieder beim Commitment: Ich unterstütze mit einem Anteil eine Investition in die Branche. Wenn wir alle einzahlen, dann werden wir mächtig. Dann haben wir mehr Möglichkeiten in der Kommunikation, dann können wir Stellung beziehen, wir können Lobbyismus machen. Das sind ganz neue Wege.

Viele Messen digitalisieren sich ja inzwischen oder finden hybrid statt. Doch online braucht man ein komplett anderes Konzept, damit Messe funktioniert. Sehen Sie es überhaupt als nötig an, Messen für die Zukunft auch hybrid anzubieten? Machen digitale Messen Sinn?

Leisse: Ich glaube, dass sie total Sinn machen, weil wir unsere Zeit nach diesem Schock viel sinnvoller einsetzen. 2019 und davor war ich unglaublich viel auf Reisen und habe das gar nicht reflektiert. Ich habe mich nicht gefragt, ob das sinnvoll ist, ich habe das einfach gemacht. Heute muss sich das Anreisen schon lohnen. Für viele wird sich der Messebesuch dann nicht mehr wie früher lohnen, als er noch Pflicht war. Also brauche ich eine virtuelle Alternative. Da gebe ich Ihnen recht, hier kann man nicht einfach einen Stand abfilmen. Man muss einen Schritt weiter gehen.

Es wird Anbieter geben, die das auch schaffen. Die den Weg über das Messegelände auf eine andere Art aufbereiten als eine 1:1 Übersetzung. Das kann an Attraktivität gewinnen, wenn sich die technologischen Möglichkeiten immer weiter verbessern. Ich kann mich jetzt schon mit Avataren unterhalten. Es gibt Kameras, die man sich aufsetzt und die in der Lage sind, nicht nur den Raum um einen herum, sondern auch die eigenen Gesichtsmuskeln zu erkennen und Mundbewegungen zu imitieren. So überspringt man die Schwelle, dass Mimik, welche für Kommunikation einfach essenziell ist, plötzlich digital möglich wird. Und so geht es weiter – warum nicht? Lasst uns das einfach ausprobieren! Die Hälfte der Entwicklungen wird hintenüberfallen, aber es werden richtig gute Ideen übrigbleiben. Wir brauchen gar nicht mehr dieses Expertentum, wir brauchen Generalistentum und Offenheit, Dinge auszuprobieren. All die kreativen Köpfe der Branche sind gefordert und werden neue Wege finden. Goldgräberstimmung, würde ich sagen.


Über Oliver Leisse

Oliver Leisse begann seine Karriere mit 20 Jahren in der Kommunikationsbranche – als Berater, der schon damals viel Zeit der Analyse und Strategie widmete (DDB/TBWA/BBDO und zuletzt Springer & Jacoby als Geschäftsführer der fünften Unit). Seit 1998 ist er Trend- und Zukunftsforscher und Keynotespeaker. Im gleichen Jahr gründete er eine Werbeagentur (NGGK) und das Online-Marktforschungsunternehmen EARSandEYES. 2008 gegründete er See More, das Institut für Zukunft und innovative Strategien mit Mitarbeiter:innen in 50 Metropolen. In all den Jahren hat er unzählige Präsentationen gehalten.


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